Die Kristallkugel KHM 197 (1857)
  Märchentyp AT: 302, 518, 552A
  
  Es war einmal eine Zauberin, die hatte drei Söhne, die sich brüderlich liebten; aber
  die Alte traute ihnen nicht und dachte, sie wollten ihr ihre Macht rauben. Da verwandelte
  sie den ältesten in einen Adler, der musste auf einem Felsengebirge hausen, und man sah
  ihn manchmal am Himmel in grossen Kreisen auf- und niederschweben. Den zweiten verwandelte
  sie in einen Walfisch, der lebte im tiefen Meer, und man sah nur, wie er zuweilen einen
  mächtigen Wasserstrahl in die Höhe warf. Beide hatten nur zwei Stunden jeden Tag ihre
  menschliche Gestalt. Der dritte Sohn, da er fürchtete, sie möchte ihn auch in ein
  reissendes Tier verwandeln, in einen Bären oder einen Wolf, so ging er heimlich fort. Er
  hatte aber gehört, dass auf dem Schloss der goldenen Sonne eine verwünschte
  Königstochter sässe, die auf Erlösung harrte; es müsste aber jeder sein Leben daran
  wagen, schon dreiundzwanzig Jünglinge wären eines jämmerlichen Todes gestorben und nur
  noch einer übrig, dann dürfte keiner mehr kommen. Und da sein Herz ohne Furcht war, so
  fasste er den Entschluss, das Schloss von der goldenen Sonne aufzusuchen. 
  Er war schon lange Zeit herumgezogen und hatte es nicht finden können, da geriet er in
  einen grossen Wald und wusste nicht, wo der Ausgang war. Auf einmal erblickte er in der
  Ferne zwei Riesen, die winkten ihm mit der Hand, und als er zu ihnen kam, sprachen sie:
  "Wir streiten um einen Hut, wem er zugehören soll, und da wir beide gleich stark
  sind, so kann keiner den andere überwältigen; die kleinen Menschen sind klüger als wir,
  daher wollen wir dir die Entscheidung überlassen." 
  "Wie könnt ihr euch um einen alten Hut streiten?" sagte der Jüngling.
  "Du weisst nicht, was er für Eigenschaften hat, es ist ein Wünschhut, wer den
  aufsetzt, der kann sich hinwünschen, wohin er will, und im Augenblick ist er dort."
  "Gebt mir den Hut", sagte der Jüngling, "ich will ein Stück Wegs
  gehen, und wenn ich euch dann rufe, so lauft um die Wette, und wer am ersten bei mir ist,
  dem soll er gehören." Er setzte den Hut auf und ging fort, dachte aber an die
  Königstochter, vergass die Riesen und ging immer weiter. Einmal seufzte er aus
  Herzensgrund und rief :"Ach, wäre ich doch auf dem Schloss der goldenen Sonne!"
  Und kaum waren die Worte über seine Lippen, so stand er auf einem hohen Berg vor dem Tor
  des Schlosses.
  Er trat hinein und ging durch alle Zimmer, bis er in dem letzten die Königstochter
  fand. Aber wie erschrak er, als er sie anblickte: sie hatte ein aschgraues Gesicht voll
  Runzeln, trübe Augen und rote Haare. "Seid Ihr die Königstochter, deren Schönheit
  alle Welt rühmt?" rief er aus. "Ach", erwiderte sie, "das ist meine
  Gestalt nicht, die Augen der Menschen können mich nur in dieser Hässlichkeit erblicken,
  aber damit du weisst, wie ich aussehe, so schau in den Spiegel, der lässt sich nicht irre
  machen, der zeigt dir mein Bild, wie es in Wahrheit ist." Sie gab ihm den Spiegel in
  die Hand, und er sah darin das Abbild der schönsten Jungfrau, die auf der Welt war, und
  sah, wie ihr vor Traurigkeit die Tränen über die Wangen rollten. Da sprach er: "Wie
  kannst du erlöst werden? ich scheue keine Gefahr." Sie sprach: "wer die
  kristallne Kugel erlangt und hält sie dem Zauberer vor, der bricht damit seine Macht, und
  ich kehre in meine wahre Gestalt zurück. Ach", setzte sie hinzu, "schon so
  mancher ist darum in seinen Tod gegangen, und du junges Blut, du jammerst mich, wenn du
  dich in die grossen Gefährlichkeiten begibst." 
  "Mich kann nichts abhalten", sprach er, aber sage mir, was ich tun
  muss." "Du sollst alles wissen", sprach die Königstochter, "wenn du
  den Berg, auf dem das Schloss steht, hinabgehst, so wird unten an einer Quelle ein wilder
  Auerochs stehen, mit dem musst du kämpfen. Und wenn es dir glückt, ihn zu töten, so
  wird sich aus ihm ein feuriger Vogel erheben, der trägt in seinem Leib ein glühendes Ei,
  und in dem Ei steckt als Dotter die Kristallkugel. Er lässt aber das Ei nicht fallen, bis
  er dazu gedrängt wird, fällt es aber auf die Erde, so zündet es und verbrennt alles in
  seiner Nähe, und das Ei selbst verschmilzt und mit ihm die kristallne Kugel, und all
  deine Mühe ist vergeblich gewesen."
  Der Jüngling stieg hinab zu der Quelle, wo der Auerochse schnaubte und ihn anbrüllte.
  Nach langem Kampf stiess er ihm sein Schwert in den Leib, und er sank nieder.
  Augenblicklich erhob sich aus ihm der Feuervogel und wollte fortfliegen, aber der Adler,
  der Bruder des Jünglings, der zwischen den Wolken daherzog, stürzte auf ihn herab, jagte
  ihn nach dem Meer hin und stiess ihn mit seinem Schnabel an, so dass er in der Bedrängnis
  das Ei fallen liess. Es fiel aber nicht in das Meer, sondern auf eine Fischerhütte, die
  am Ufer stand, und die fing gleich an zu rauchen und wollte in Flammen aufgehen. Da
  erhoben sich im Meer haushohe Wellen, strömten über die Hütte und bezwangen das Feuer.
  Der andere Bruder, der Walfisch, war herangeschwommen und hatte das Wasser in die Höhe
  getrieben. Als der Brand gelöscht war, suchte der Jüngling nach dem Ei und fand es
  glücklicherweise; es war noch nicht geschmolzen, aber die Schale war von der plötzlichen
  Abkühlung durch das kalte Wasser zerbröckelt, und er konnte die Kristallkugel unversehrt
  herausnehmen.
  Als der Jüngling zu dem Zauberer ging und sie ihm vorhielt, so sagte dieser
  "meine Macht ist zerstört, und du bist von nun an der König vom Schloss der
  goldenen Sonne. Auch deinen Brüdern kannst du die menschliche Gestalt damit
  zurückgeben." Da eilte der Jüngling zu der Königstochter, und als er in ihr Zimmer
  trat, so stand sie da in vollem Glanz ihrer Schönheit, und beide wechselten voll Freude
  ihre Ringe miteinander.
  
  top